Zu Tausenden sterilisiert und kastriert |
Was in Zürich geschah, wurde schon damals erfolglos kritisiert, gehörte aber in eine Zeit, in der Rassenhygiene, Eugenik und Sozialdarwinismus zur Blüte kamen. Wie Huonker am Dienstag vor den Medien sagte, führte die Lehre von der Höherwertigkeit des Stärkeren und des weissen Mannes auch dazu, dass Frauen, Arme, Ungebildete und ländliche Menschen als minderwertig galten.
Sie waren es, die am meisten von Zwangsmassnahmen betroffen waren. In der stichprobenartigen Untersuchung kam Huonker, hochgerechnet auf die 90 untersuchten Jahre, auf Tausende von illegalen Zwangs-Sterilisationen und Schwangerschaftsabbrüchen, Hunderte von Eheverboten und Dutzende von Kastrationen.
Immer ging es den Chirurgen, Gynäkologen und Röntgenärzten darum, «erblich minderwertigen Nachwuchs» zu verhindern. Sie diagnostizierten «moralischen Schwachsinn» und Schizophrenie, behandelten teils aber auch Gehörlose, Blinde und Epileptische als Minderwertige.
Dass die Zürcher Psychiatrie in Europa eine Vorreiterrolle spielte, ist dank Namen wie August Forel, Eugen Bleuler und Hans Wolfgang Maier bekannt. Erstaunlich war für Huonker aber deren enge Zusammenarbeit mit führenden nazi-deutschen Eugenikern wie Ernst Rüdin und Hans Luxenburger. Auch, dass selbst nach 1945 eugenische Argumentationen in Gutachten stillschweigend weitergeführt wurden.
Die Wende kam landesweit erst in den 70er Jahren - dies der Grund, weshalb Huonkers Forschungen dann aufhören. Auf seinen Bericht im Auftrag des Stadtzürcher Sozialdepartements soll im September ein Bericht über die Lage im Kanton folgen.
Wenn die grösste Schweizer Stadt ein dunkles Kapitel ihrer Geschichte öffentlich macht, ist ihr das Medieninteresse sicher. Der Musiksaal des Stadthauses war denn auch bis auf den letzten Stuhl besetzt, als Sozialvorsteherin Monika Stocker von der "Erschütterung" sprach, welche der Bericht des Historikers Thomas Huonker (siehe Kasten) bei ihr ausgelöst habe.
Im Saal sassen auch jene zwei Personen, welche diese
Gewissenserforschung in Gang gebracht hatten: der Historiker Willi
Wottreng und die grüne Gemeinderätin Katharina Prelicz-Huber.
Wottrengs 1999 erschienenes Buch "Hirnriss" wies auf leicht lesbare
Art nach, dass die Leitfiguren des Burghölzli in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts Dutzende so genannt minderwertige Personen
zwangsweise sterilisiert hatten. Da ihnen dabei die städtischen
Sozialbehörden kräftig in die Hände gearbeitet hatten, verlangte
Katharina Prelicz-Huber in einem Postulat, dass dieses dunkle
Kapitel städtischer Sozialgeschichte aufzuarbeiten sei.
Gemeinderätin Katharina Prelicz-Huber |
Der Historiker Thomas Huonker hat darum im Auftrag des Sozialdepartementes im Stadtarchiv 1000 Fallgeschichten studiert. Sein Fazit: Das Ausmass der Übergriffe betrifft nicht einige Dutzend Menschen, sondern wahrscheinlich Tausende - vor allem Frauen - aus der Unterschicht. Obwohl bei Kanton und Bund bereits Projekte laufen, brauche es dringend weitere Forschung, betonte Thomas Huonker. Für Monika Stocker als Präsidentin der Vormundschafts- und der Fürsorgebehörde bedeutet die Offenlegung "dieser aus heutiger Sicht skandalösen Eingriffsfürsorge" auch, die eigene Rolle ständig zu hinterfragen. Stocker entschuldigt sich im Bericht persönlich bei den Opfern der Vergangenheit für das erlittene Unrecht. Sie versprach, alles daranzusetzen, dass es in ihrer Amtszeit "keine Täter und keine Opfer geben soll, sondern nur Handelnde, die ihre Verantwortung so gut, so gerecht und vor allem so menschlich wie möglich wahrnehmen". |
Doch was bewahrt uns davor, dass sich die Geschichte wiederholt? Helmut Henkel, der heutige Chef der Vormundschaftsbehörde, führte als besten Schutz eine veränderte Grundhaltung seiner Behörde an: Seit 1970 sind verschiedene wichtige Gesetze liberalisiert worden. Die Devise heisse nicht mehr "vogten", sondern beistehen. Als Beweis nannte Henkel dazu ein paar Zahlen: 1934 waren über 3000 Kinder bevormundet, heute sind es nur noch 150. Bei den Erwachsenen hatten damals 2400 Personen einen Vormund, heute sind es noch 1100. Heute zieht man der strikteren Form der Vormundschaft die mildere Beistandschaft vor, gerade auch bei alten Leuten. "Anstaltseinweisungen sind heute nur noch Ultima Ratio", sagte der Chef der Vormundschaftsbehörde, der sich von Huonkers Bericht ebenfalls berührt zeigte.
Danach sollen Personen entschädigt werden, die gegen ihren Willen sterilisiert oder kastriert worden sind. Zudem sollen Sterilisationen von unter 18-Jährigen und vorübergehend Urteilsunfähigen verboten werden.
Der Gesetzesentwurf verweist für die Bemessung einer allfälligen Genugtuung auf das Opferhilfegesetz. Mit dem Vollzug der Entschädigungen sollen die Kantone betraut werden, der Bund zahlt ihnen die Hälfte der Aufwendungen.
Laut Hermann Schmid vom Bundesamt für Justiz wird der Bundesrat im Auftrag der RK so rasch wie möglich eine Vernehmlassung eröffnen. Auch, weil die Betroffenen teils schon sehr alt sind.
Die Schweiz zählt seit den 70er Jahren über ein Dutzend Gesetzesänderungen, die Zwangsmassnahmen wie sie früher vorkamen, verhindern. Darunter sind das Konkubinatsverbot, das Kindesrecht, die Patientenrechtsverordnung, das Datenschutzgesetz.
Gestrichen wurde auch das Eheverbot für Geisteskranke. Die fürsorgerische Freiheitsentziehung gilt als letzte aller Möglichkeiten, und über eine gesetzliche Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs wird am 2. Juni abgestimmt.